Im Februar 2020 nach dem gleichnamigen Gedicht

„Kannst Du Dir vorstellen wie es wäre“, kommt es in einem für ihn ungewohnt besinnlichen Ton über seine Lippen, „in Deinem Leben die volle Verantwortung für all Deine Entscheidungen zu übernehmen?“
Sie schluckt fast hörbar, hat sie eine Frage von solch bestechender Einfachheit noch nie gestellt bekommen.
Dies kommt unerwartet und nimmt ihr den üblichen Wind aus den Segeln. Verantwortung? Nein, die haben andere zu tragen. Überraschend tief saugt sie die frische Luft ein. Im Vorübergehen beobachtet sie ein Pärchen auf einer Bank, das offenbar ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist.
Für sie eine willkommene Ablenkung von seiner Frage, deren Beantwortung sie offensichtlich noch schuldig bleiben will. Ihre Präsenz hat er lange nicht mehr so deutlich gefühlt. Vergeblich versucht er Blickkontakt mit ihr aufzunehmen und nimmt sich bewusst viel Zeit ihre Reaktion abzuwarten.
Ihr wird allmählich klar, dass sie ihn noch nie so selbstbewusst erlebt hat.
Schade, das hätte sie gern früher erlebt.

„Glaubst Du, dass wir uns als Seelen unsere Eltern und die Lebensumstände selbst aussuchen, um entsprechende Erfahrungen zu sammeln?“, schiebt er nach, ohne noch länger auf ihre Reaktion warten zu wollen.
Er scheint sich auf seine neu erstarkte Intuition zu berufen und wendet seinen Blick auf die zeitgleich durch die Wolken brechenden Lichtstrahlen der Sonne. 

„Wie kommt er nur darauf?“, geht es ihr durch den Kopf, „auf so etwas wäre er früher nie gekommen.“
Ein kleiner Junge versucht mit seinem Vater Steine über das ruhige Wasser des Sees hüpfen zu lassen.
„Zumindest wäre das für mich ein erfüllenderer Sinn des Lebens, statt einen Sohn zu zeugen, ein Haus zu bauen und einen Baum zu pflanzen“, führt er überzeugend fort.
Der große Junge, den sie bis heute immer noch in ihm sieht, scheint endlich zu dem erwachsenen Mann gereift zu sein. Die Art Mann, die sie an seinem Vater so anziehend fand. 

Auf der schmalen Brücke über dem kleinen Zubringerfluss begegnet ihnen ein älteres Paar.
Als sie nur ihn allein begrüßen, fällt ihr wieder ein, daß sie ihrem Sohn doch immer sagen wollte wie stolz sie auf ihn ist, als sie noch die Gelegenheit dazu hatte.
„Wenn er doch nur wüsste, wieviel Wahrheit in seinen Fragen steckt“, verabschiedet sie sich unhörbar für ihn, „doch dies erfährt er früh genug, wenn wir uns irgendwann wieder sehen.“

Am 09. Februar 2020 um 15:30 Uhr